Erinnern heißt verändern – Warum wir am Hamburger Hafen einen dekolonialen Aufbruch brauchen
30. Juni 2025
Von: Sonia Octavio
Fachpromotorin Dekolonisierung

Fotografiert von: Denkfalle auf Pixabay
Hamburg blickt auf eine lange Geschichte als Handels- und Hafenstadt zurück. Der Hafen gilt als Symbol für Weltoffenheit, wirtschaftliche Stärke und globale Vernetzung. Doch diese Erfolgsgeschichte hat auch eine Schattenseite, über die lange kaum gesprochen wurde: Hamburgs koloniale Verflechtungen sind untrennbar mit dem Hafen verbunden. Über Jahrzehnte liefen über die Kaianlagen Waren, Menschen und Machtverhältnisse, die direkt aus kolonialen Kontexten stammten. Orte wie der Petersenkai und der Baakenhafen stehen exemplarisch für diese wenig beachtete Vergangenheit. Und sie stehen zugleich für die große Chance, diese Geschichte heute sichtbar zu machen und verantwortungsvoll in die Gestaltung der Stadt einzubinden.
Ein Workshop als Impulsgeber
Am 7. Juni 2025 fand im Betahaus in der Hamburger HafenCity ein Workshop statt, zu dem das Netzwerk HafenCity e. V. und Ossara e. V. eingeladen hatten. Rund 30 Teilnehmende aus zivilgesellschaftlichen Initiativen, Communities of Color, Wissenschaft, Kultur und Stadtteilarbeit kamen zusammen, um gemeinsam über eine zukunftsfähige, dekoloniale Erinnerungskultur in der HafenCity nachzudenken. Das Ergebnis sind sorgfältig, erarbeitete Forderungen, die konkrete Vorschläge für eine lebendige und inklusive Erinnerungskultur rund um die HafenCity zusammenfasst. Es versteht sich nicht als abschließendes Konzept, sondern als Impuls. Als Einladung, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen.
Perspektiven sichtbar machen und Teilhabe ermöglichen
Im Zentrum der Diskussion stand die Überzeugung, dass eine glaubwürdige Erinnerungskultur nicht ohne die Beteiligung jener Menschen gestaltet werden kann, deren Geschichte mit kolonialer Gewalt, Ausbeutung und Widerstand verbunden ist. Besonders Menschen afrikanischer, asiatischer und indigener Herkunft, Nachkommen kolonialisierter Gesellschaften wie der Herero oder Nama, sowie jüdische Communities, Sintizze und Romnja bringen Perspektiven ein, die im öffentlichen Diskurs oft fehlen und die entscheidend dafür sind, koloniale Kontinuitäten zu erkennen und zu durchbrechen. Erinnerung darf nicht nur das Erzählen dominanter Geschichtsbilder sein, sondern muss Raum schaffen für bislang marginalisierte Stimmen. Dafür braucht es Strukturen: dauerhafte Beteiligungsformate, barrierefreie Zugänge, transparente Prozesse.
Erinnerung braucht Sichtbarkeit und Verantwortung
Die Forderungen machen außerdem deutlich, dass Erinnerung keine abstrakte Angelegenheit bleiben darf. Sie muss sich im öffentlichen Raum, in der Gestaltung der Stadt und in politischen Entscheidungen konkret niederschlagen. Die Geschichte des Baakenhafens sollte deshalb systematisch erforscht und öffentlich aufbereitet werden. Nicht als reine Dokumentation, sondern als Ausgangspunkt für neue Formen des Gedenkens. Nicht nur in baulicher Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf den Umgang mit der Geschichte der Orte, an denen sie tätig ist. Es geht darum, bestehende Pläne nicht einfach umzusetzen, sondern sie kritisch zu hinterfragen: Wo kann Raum für Gedenken entstehen? Wie können historische Kontexte in die Zukunft der Stadt mitgedacht werden?
Zivilgesellschaftliche Mitgestaltung ernst nehmen
Ein zentrales Anliegen des Workshops war es, die Rolle der Zivilgesellschaft zu stärken. Erinnerungskultur lebt von Beteiligung, und Stadtentwicklung sollte kein exklusiver Prozess bleiben, sondern ein gemeinschaftlicher. Deshalb plädieren die Beteiligten für verbindliche Mitspracherechte in Planungsverfahren, für transparente und gut zugängliche Dialogformate und für die Möglichkeit, auch über direkte demokratische Instrumente Einfluss auf größere Projekte zu nehmen. Erinnerung darf kein nachträglicher Zusatz sein, sondern muss als integraler Bestandteil von Stadtplanung begriffen werden.
Ein Ort für gemeinsames Erinnern
Doch Erinnerung braucht nicht nur Strukturen. Sie braucht auch Orte. Orte, an denen kollektives Erinnern möglich wird, an denen Menschen zusammenkommen können, um Geschichte zu teilen, zu verhandeln und weiterzudenken. Ein solcher Ort könnte in der HafenCity entstehen: als Gedenkort, als Bildungs- und Kulturort, als Raum für Kunst und Begegnung. Damit dieser Ort gelingen kann, muss er gemeinsam mit betroffenen Gruppen entwickelt und langfristig finanziert werden. Durch die Stadt, das Land, vielleicht auch durch den Bund. Nur so kann verhindert werden, dass Erinnerungskultur von Projektzyklen oder politischen Stimmungen abhängig bleibt. Ebenso wichtig ist die Einbindung dieses Ortes in das bestehende Hamburger Erinnerungskonzept zur Dekolonisierung, damit er nicht isoliert bleibt, sondern Teil eines gesamtstädtischen Prozesses wird.
Koloniale Spuren im Stadtbild erkennen und bearbeiten
In engem Zusammenhang steht auch die Frage nach symbolischer Sichtbarkeit: Wie sprechen wir über Straßen, Plätze und Bauwerke, die Namen oder Funktionen aus kolonialen Kontexten tragen? Wie können postkoloniale Perspektiven ergänzt, wie kritische Reflexion angestoßen werden? Hier braucht es nicht nur neue Tafeln oder Erklärtexte, sondern auch mutige Entscheidungen: etwa die Umbenennung kolonial konnotierter Straßen oder die Einbindung künstlerischer, aktivistischer und wissenschaftlicher Beiträge in die Gestaltung des öffentlichen Raums.
Der Baakenhöft als Ort der Teilhabe statt Exklusivität
Ein besonders aktueller Punkt betrifft die geplante Oper auf dem Baakenhöft. Die Workshop-Teilnehmenden schlagen vor, diese Pläne zu überdenken zugunsten eines offenen, zugänglichen Erinnerungs- und Begegnungsortes. Der Baakenhöft könnte zu einem Ort werden, der kollektive Geschichte mit Zukunftsperspektiven verbindet: mit Raum für Veranstaltungen, Austausch, künstlerische Projekte und mit einem Anspruch, der nicht auf Exklusivität, sondern auf Teilhabe setzt.
Ein Stadtentwicklungsprozess mit historischem Bewusstsein
Die Entscheidungen über zentrale Bauprojekte in der HafenCity stehen unmittelbar bevor. Jetzt ist der Moment, die Stadtentwicklung neu zu denken als sozialen, erinnerungspolitischen und gemeinschaftlichen Prozess. Die Forderungen sind ein Angebot, diesen Weg gemeinsam zu gehen. Es richtet sich an Politik, Verwaltung, Kulturinstitutionen, Stadtplanung und an uns alle, die wir in dieser Stadt leben, arbeiten, erinnern und gestalten.